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Analyse der Anhaltspunkte für ein "Gutes Leben" in Platons Dialog "Charmides"

Einleitung

Der griechische Philosoph Platon stammte von einer vornehmen und einflussreichen Familie ab - dennoch sah er seine Bestimmung unter den damaligen Umständen nicht als Politiker der Polis, sondern versuchte zeitlebens durch seine philosophischen Bemühungen der Politik ein sicheres Fundament zu verleihen [1]. Das innige Verhältnis zu Sokrates [2], besonders vor dessen Hinrichtung im Jahre 399 v.Chr., lässt den frühen Platon als Fortführer seiner Lehren erscheinen - wenig verwunderlich ist somit auch der Umstand, dass Sokrates in fast allen platonischen Dialogen als Protagonist auftritt.

Aus der unabdingbaren Verbindung der Polis zu den ihr zugehörigen Menschen gewann Platon die Idee, durch philosophisch-therapeutische Einflussnahme auf den Einzelnen gleichsam auch die Polis von ihren Problemen zu heilen. Ein tugendhaftes, gutes Leben des Einzelnen würde auch die Polis gut machen und diese wiederum guten Einfluss auf den Einzelnen haben. Eine eingehende Untersuchung der Tugenden an sich brachte Platon zu der näheren Bestimmung von vier Kardinaltugenden [3] , die in seinem Werk "Politeia" chararakterisiert werden. Sie stellen in dieser Hinsicht die Grundlage des guten Lebens dar. Diese vier vollkommen guten Tugenden, die sowohl auf den Staat als auch auf den Menschen anwendbar sind, bestimmt er als Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit.

In Platons aus seiner frühen Periode stammenden Werk "Charmides", welches noch vor der "Politeia" entstanden ist, findet eine detaillierte Analyse und Begriffsbestimmung der Besonnenheit als Tugend statt, die allerdings, wie für die platonischen Frühdialoge typisch, in einer Aporie ihr Ende findet. Das aporetische Ende kann allerdings keineswegs als Kriterium zur Sinnbestimmung des Dialogs an sich dienen - vielmehr ist es ein Anhaltspunkt für Platons Bemühung, bei seinen Gesprächspartnern eine Öffnung für die Wirklichkeit zu induzieren und somit die Möglichkeit einer eigenständigen Problemlösung auch in Bereichen zu ermöglichen, die vorher noch keine Problematisierung erfahren haben.

Im Folgenden wird anhand der vier elementaren Tugenden ("Kardinaltugenden") und der Bestimmung der drei Seelenteile des Menschen ein kurzer Überblick über die platonische Tugendlehre gegeben. Darauf aufbauend erfährt der Dialog "Charmides" eine detaillierte Analyse, im Bezug auf Platons Argumentationsweise und vermutliche Intention. Die Ergebnisse werden im Anschluss mit einigen Überlegungen zum "Guten Leben" in Verbindung gesetzt, bevor nach einer Zusammenfassung der wichtigsten Anhaltspunkte eine abschließende Stellungnahme aus eigener Sicht erfolgt.

Überblick über die platonische Tugendlehre

Der gute Staat - Der gute Mensch

Platon entwickelt in seinem Werk "Politeia" die Idee des guten Staates und stellt fest, dass im guten Staat verschiedene Eigenschaften zwingend vorhanden sein müssen. Bei diesen Eigenschaften handelt es sich ausnahmslos um Tugenden, nämlich die der Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit [4].

Weisheit soll dem Staat dadurch zukommen, dass er von innen heraus gute Beratung erfährt, also am Prozess der Wissensvermittlung teilnimmt. Bei diesem Wissen handelt es sich allerdings nicht um ein möglichst komplettes Allgemein- oder Allwissen, sondern um ein Wissen, dass aus der Beratung einzelner Bürger "über ihn als ganzen, über sein bestes Verhalten gegen sich selbst und gegen die andern Staaten" [5] resultiert. Der Personenkreis dieser Beratungszusammenkünfte wird von Platon mit dem Begriff der "Wächter" bezeichnet - diese Wenigen sind für das spezifische Wissen den Staat betreffend verantwortlich.

Damit ist ein erstes Wesensmerkmal aufgedeckt - der Staat bedarf aber auch des Schutzes seiner erzieherisch vermittelten Vorstellungen "von Wesen und Art des Furchtbaren, die das Gesetz durch die Erziehung geweckt hat" [6]. Diese Vorstellungen sollen unter allen Umständen bewahrt werden und somit eine Art Überzeugungsmanifest darstellen, das die Beständigkeit von Staat und Gesetz gewährleisten können soll. Der Schutz dieser Vorstellungen stellt für Platon Tapferkeit dar, also "eine Art des Bewahrens" [7].

Dass die Eigenschaften des Staates direkt auf die des Menschen übertragbar sind wird implizit an diesem Punkt bereits angedeutet, denn auch Besonnenheit soll im guten Staat walten. Platon versteht darunter "eine gewisse Ordnung und eine Beherrschung der Lüste und Triebe" [8] und stellt dadurch eine Analogie zur menschlichen Seele dar, wonach diese sowohl einen besseren, wie auch einen schlechteren Teil beherbergt. Als besonnen soll danach derjenige gelten, der sich selbst überlegen ist und in dem somit die Herrschaft dem besseren Seelenteil obliegt. "Einfache und maßvolle Triebe, die das Denken mit Hilfe des Verstandes und der richtigen Vorstellung leitet, die findet man nur in wenigen Leuten, die eine hervorragende Natur und Erziehung besitzen" [9] - und eben diese sollen die Leidenschaften der Anderen beherrschen und somit ihre guten Eigenschaften zum Maßstab für alle machen. Die Besonnenheit ist die Tugend, die über Gesagtes hinaus alle Teile in Eintracht verbindet - sowohl im Staat als auch im einzelnen Menschen.

Als grundlegende Eigenschaft schreibt Platon die Gerechtigkeit dem Staat zu. Erst durch diese sollen alle anderen Tugenden ihre Kraft bekommen, "sich zu entwickeln und hiernach unverändert zu bleiben, solange sie selbst in ihnen ist" [10]. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass "jeder das Seine im Staat macht" [11] und somit nach besten Kräften und Veranlagungen am Wohlergehen des Staates mitwirkt.

Die enge Verbindung zwischen Staat und Mensch scheint folgerichtig, denn letzten Endes besteht der Staat lediglich aus Menschen und deren Ideen, Anstößen, Eigenschaften und Verhalten ihn betreffend. Da es Menschen sind, die den Staat bevölkern und in ihm leben, ist es naheliegend, eine Analogie der Tugenden anzunehmen - was den Staat "gut" macht, soll auch den Menschen positiv beeinflussen und umgekehrt der gute, tugendhafte Mensch den Staat als imaginäres Gebilde von Menschen für Menschen. Die Tugenden des Staates hat Platon also auf den Menschen übertragen und sich durch erneute Untersuchung am Menschen rückversichert, dass diese wirklich gut sind [12]. Auf Grund dieser Erkenntnisse konnte Platon auch auf die Beschaffenheit der menschlichen Seele rückschließen.

Die Beschaffenheit der Seele

Die von Platon aufgestellte Theorie der menschlichen Seele [13] erinnert in ihren Grundzügen bereits an das später vom als Begründer der Psychoanalyse geltenden Siegmund Freud aufgestellte erste topische Modell [14]. Es liegen starke Parallelen zwischen den von Freud begründeten Systemen "Bewusst" und "Unbewusst" und Platons im folgenden geschilderten Seelenteilen der "Vernunft" und "Begierde" vor - lediglich Platons Seelenteil des "Mutes" lässt sich nicht mit dem des freudschen Modells der Psyche vergleichen - als drittes System nahm Freud ein System "Vorbewusst" an, das eine Art Vermittlerfunktion zwischen beiden anderen erfüllen sollte. Auch nach seinem zweiten topischen Modell wäre an dieser Stelle nicht das von Platon vermutete anzunehmen, sondern die Funktion des Über-Ichs. Die vorliegenden Schnittpunkte sind aber dennoch auffällig und überraschend "modern".

Drei Seelenteile sollen Platons Theorie zufolge das Gesamtkonstrukt der Seele bilden, ihre Einteilung erfolgt in einen vernunftgesteuerten, einen durch Triebe und Begierde geprägten und letztlich einen mutvollen Teil. Platon ist der Überzeugung, dass "es dieselben und gleichvielen Teile im Staate gebe wie in der Seele" [15] und schreibt jedem der drei Teile verschiedene Aufgaben und Charakteristika zu, die im folgenden nähere Beachtung finden.

Der Seelenteil der Unterscheidung zwischen gut und schlecht ist der der Vernunft, diesem kommt beim guten Menschen auch die Herrschaft über die anderen Seelenteile zu, weil er "weise ist und die Obsorge über die ganze Seele hat" [16] - insbesondere die Herrschaft der Begierden liegt in seinem Aufgabenbereich. Als gehorsamer Helfer dieses Teils fungiert der mutvolle Teil , welcher ebenfalls den Menschen in Notlagen durch Anwendung der notwendigen Mittel zu verteidigen wissen soll. Lüste und der Wunsch nach Befriedigung persönlicher Wünsche kennzeichen maßgeblich den Teil der Begierde - er gehört notwendig zu den anderen Teilen, aber sollte der Kontrolle der Vernunft unterstellt sein um zu gewährleisten, dass nur tugendhafte Handlungen und Verhaltensweisen ausgeführt werden.

Wenn von den Seelenteilen "ein jeder seine Aufgabe erfüllt, ist [die betreffende Person] gerecht und erfüllt seine Aufgabe" [17], aber die Harmonie der einzelnen Seelenteile muss erst hergestellt werden, sie ist keine a priori vorhandene. Dazu nennt Platon die Mittel der musischen und gymnastischen Erziehung, die durch "schöne Worte", wie im Dialog "Charmides", wissenschaftliche Betätigung und guten Zuspruch umgesetzt werden können [18]. Besonnenheit zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Teile sich in Freundschaft zueinander befinden und die Herrschaft der Vernunft anerkennen - für gerecht befindet Platon die innere Haltung, in der alle Seelenteile ihren Teil verrichten, ohne Aufgaben der Anderen übernehmen zu müssen oder ihren zu vernachlässigen.

Dieses tugendhafte Leben führt nach Platon zur Gesundheit der Seele und zu wahrer Schönheit, kurz: zur Vollendung der Seele. Gute und tugendhafte Lebensgewohnheiten sollen diesem Prozess zuträglich sein, so dass ein jeder an der Verfassung seiner Seele aktiv arbeiten kann - auch dieser Punkt erinnert an "moderne" Erkenntnisse der Verhaltenstherapie, in der ebenfalls die Theorie vertreten wird, dass durch Umstellung der eigenen Verhaltenweisen und Lebensgewohnheiten mit der Zeit eine Änderung des Befindens und der psychischen Verfassung erreicht werden kann.

Im Folgenden wird eine nähere Analyse der Anhaltspunkte für ein gutes Leben am Beispiel Platons Dialog "Charmides", welcher sich thematisch gut in den Rahmen der bisherigen Ergebnisse eingliedert, vorgenommen.

Untersuchungen zur Besonnenheit

Interpretation des szenischen Rahmens

Der Dialog "Charmides" zählt zu den frühen bis mittleren Werken des Platon. Seine Handlung findet zur Zeit des peloponnesischen Krieges statt, wurde allerdings später verfasst. Es scheint bewusst so gewählt zu sein, dass die Handlung an einem Schauplatz der Vergangenheit stattfindet, wenn man den weiteren Verlauf der Geschichte betrachtet: der Krieg war für Athen ein verlorener und die siegreichen Spartaner setzten in Athen als Herrscher die sogenannten "30 Tyrannen" ein. Unter deren Mitgliedern befanden sich auch Charmides und Kritias, die Gesprächspartner Sokrates' im Dialog "Charmides", sowie enge Verwandte des Platon [19], welche sich somit aktiv und direkt an der damals vorherrschenden Gewaltherrschaft dieser beteiligt haben. Vor eben diesem Hintergrund muss auch der Dialog betrachtet werden, denn er legt Platon die Intention nahe, auf diese Weise sowohl an seiner eigenen Familiengeschichte zu arbeiten, als auch seinen Lesern Einblick in die Denkprozesse und Charkatereigenschaften der beiden damals wohl bekannten Mitglieder der "30 Tyrannen" zu geben.

Die im Verlauf des Dialogs dargestellte Handlungs- und Argumentationsweise von Charmides und Kritias kann von Platon als mahnendes Beispiel benutzt worden sein, um zu zeigen, dass eine fehlende oder zu wenig intensivierte Beschäftigung mit sich selbst und der das Gute repräsentierenden Tugend zu schlimmen Folgen führen kann - und dies nicht nur für die Polis und ihre Mitglieder insgesamt, sondern ebenso für die betreffende Person selbst. Allerdings kann der Dialog auch als eine Art Erklärungsversuch und Ursachenforschung hinsichtlich der geschichtlichen Ereignisse betrachtet werden, denn wie die Polis durch die seelische Gesundheit ihrer Mitglieder gesunden sollte, so zeigte sich, dass sie durch die "Krankheit" Einzelner ebenfalls ihre Harmonie einbüßen musste.

Der Dialog beginnt damit, dass der kürzlich erst von der Schlacht bei Poteidaia zurückgekehrte Sokrates vor dem Ringplatz des Taureas, einem Teil des damaligen Gymnasions, welches auch Schauplatz einiger anderer platonischer Dialoge ist, viele seiner Bekannten vorfindet. Das Gymnasion war an sich eine Sportstätte für junge Athener, diente aber auch allgemein der Unterhaltung [20] und stellte für Sokrates und seine Bekannten einen wohl beliebten Treffpunkt dar. Tatsächlich findet Sokrates seine Bekannten dort in geselliger Runde vor und wird freundlich begrüßt, bevor er ausgiebig zu der Schlacht bei Poteidaia befragt wird und sich anschließend nach den aktuellen Geschehnissen in Athen erkundigt. Der eigentliche Dialog beginnt damit, dass der sich in der Runde befindliche Kritias Sokrates auf seinen über alle Maßen schönen Vetter Charmides hinweist, welchen Sokrates bereits seit dessen früher Kindheit kennt. Als dieser dann den Raum betritt, ist auch Sokrates sehr angetan von dessen äußerer Gestalt - im folgenden Gespräch soll allerdings die Schönheit an der Seele geprüft werden. Da Charmides über morgendlichen Kopfschmerz klagt, nutzt Sokrates die Gelegenheit, diesen auf den Zusammenhang von Körper und Geist hinzuweisen und gibt vor, ein "Wundermittel" von einem Priester des Zalmoxis erfahren zu haben, das allerdings zu seiner Wirkentfaltung der zusätzlichen Besprechung mit einem Zauberspruch bedarf. Durch diese Finte gelingt es Sokrates, mit der Prüfung von Charmides Seelenverfassung und Besonnenheit zu beginnen und er weist auf den Umstand hin, der heute unter dem Begriff "Psychosomatik" verstanden wird, nämlich, dass "von der Seele [...] alles Schlechte und Gute für den Körper und den ganzen Menschen" [21] ausgehe - ein idealer Ausgangspunkt also auch für seine nachfolgende Analyse im Gespräch mit Charmides.

Die Definitionsversuche und deren Analyse

Vorgehensweise des Sokrates

"Diese Zaubersprüche [...]", so versichert Sokrates, "seien die schönen Worte" [22] und meint damit seine der Wahrheitsfindung dienlichen Dialoge, die seine Gesprächspartner ebenfalls mit der Widersprüchlichkeit ihres Für-Wahr-Geglaubten konfrontieren sollen, um im Anschluss durch eigene Beschäftigung mit dieser Aporie zu einer begründeten Meinung zu kommen. Auch an diesem Punkt des Dialoges wird das Spannungsverhältnis zu den schönrednerischen Sophisten deutlich [23], denn nur durch Reflexion und Offenheit für die Wahrheit sei die Gesundheit der Seele zu erreichen.

Geschickt, wenn auch nicht ganz ehrlich, verspricht Sokrates nun dem Charmides, dass er, gebunden an sein Versprechen demjenigen gegenüber, der ihn angeblich diesen Zauberspruch lehrte, nach der Besprechung mit diesem auch das passende Heilkraut gegen die Kopfschmerzen zur Anwendung bringen wird. Zu diesem Zeitpunkt dürfte sich lediglich Sokrates selbst darüber bewusst sein, dass es sich bei diesem versprochenen Heilmittel nicht wirklich um ein Kraut handelt, sondern dass es das Ergebnis des Zauberspruchs selbst ist: die Aporie und die damit verbundene Suche nach der Wahrheit. Dies macht verständlich, wieso Sokrates anführt, dass "falls Besonnenheit bereits bei dir [Charmides] vorhanden ist, [...] brauchst du die Zaubersprüche eines Zalmoxis [...] nicht mehr, sondern dir wäre gleich das Heilkraut für die Kopfschmerzen zu verabreichen" [24] - die Beschwerden des Charmides können als Anhaltspunkt für fehlende Harmonie interpretiert werden, so dass es nach Platons Theorie schwerlich möglich wäre, dass sich Charmides bereits im Besitz der Tugend der Besonnenheit befindet. Somit kann Sokrates seine geplante Strategie in die Tat umsetzen und zu einer seiner ersten analytisch-hermeneutischen Prüfung übergehen: "Wenn Besonnenheit bei dir [Charmides] vorhanden ist, kannst du dir doch sicher von ihr auch eine Vorstellung bilden. Denn wenn sie wirklich in dir steckt, muß sie auch wahrnehmbar sein. Aus ihrer Wahrnehmung aber bei dir wohl eine Vorstellung, was die Besonnenheit ist und welche Beschaffenheit sie hat" [25].

"Ruhe"

Charmides entspricht Sokrates' Aufforderung und unternimmt einen ersten Definitionsversuch. Besonnenheit sei "zusammengefaßt so etwas wie Ruhe" [26]. Geschickt lässt Platon Sokrates in der anschließenden Erörterung der Stimmigkeit dieser vorgeschlagenen Definition den Begriff der Ruhe an den des Geschätzt-Werdens koppeln. So ist es ihm möglich, Charmides in einen (scheinbaren) Widerspruch zu verwickeln, indem er aufzeigt, dass die Besonnenheit - vorher als Ruhe definiert - zu dem zählt, was hoch geschätzt wird, wohingegen viele andere Dinge, die hoch geschätzt werden, mit Schnelligkeit erfolgen und dadurch erst ihre Schönheit erlangen. "[...] Ist nicht beim Wettlauf, Weitsprung und bei allen körperlichen Tätigkeiten das, was gewandt und schnell geschieht, schön, was dagegen schwerfällig und langsam geschieht, unansehnlich?" [27]. An dieser Stelle wird allerdings deutlich, dass Sokrates selbst sophistisch argumentiert: Er "überrumpelt" Charmides durch seine Darstellung, die Begriffe "Ruhe" und "Schnelligkeit" seien kontradiktorisch, wobei dies eher bei "Langsamkeit" und "Schnelligkeit" der Fall wäre. Durch viele Beispiele und geschlossene Fragen in die Enge getrieben, willigt Charmides nach Sokrates' ausführlichem Resumee hinsichtlich der Ruhe als möglicher Definition von Besonnenheit ein und verwirft seine erste Definition.

"Zurückhaltung"

Von Sokrates zu einem erneuten Definitionsversuch und zu erneuter Reflexion mit dem Ziel der Selbsterkenntnis [28] aufgefordert, erwidert Charmides, Besonnenheit sei "dasselbe wie Zurückhaltung" [29]. Dies nimmt Platon sehr wörtlich und weist nach einer Analogiebildung zwischen "vorzüglich", wie Charmides die Besonnenheit charkaterisierte, und "gut", auf einen Vers aus der "Odyssee" des griechischen Dichters Homer hin, welcher besagt, dass es nicht gut sei, wenn ein Notleidender Zurückhaltung übe [30]. Da Charmides diesem Vers Recht gibt, hat Sokrates ihn des Widerspruchs überführt, weil Zurückhaltung somit durch Ambivalenz gekennzeichnet ist, also gut und schlecht sein kann, während die Tugend der Besonnenheit etwas an sich rein Gutes darstellt. Zurückhaltung und Besonnenheit können infolge dessen nicht gleichbedeutend sein.

"Das Seine tun" (Charmides)

Schnell führt Charmides eine neue Definition an, die er von "irgend jemandem" gehört haben will: "Besonnenheit bedeute 'das Seine tun'" [31].

Unter Rückbesinnung auf die von Sokrates eingangs gesetzte Prämisse, beim Vorhandensein der Besonnenheit müsse die jeweilige Person auch eine Vorstellung von ihr haben, wird an diesem Punkt deutlich, dass diese Eigenschaft dem Charmides nicht zukommen kann. Seine Definitionsvorschlage haben sich erschöpft und ihm bleibt nur, auf eine einmal von jemand Anderem gehörte Definition zu verweisen. Es ist dadurch naheliegend, dass er selbst keine eigene Vorstellung der Besonnenheit anführen kann, die der Analyse des Sokrates Stand halten und er Sokrates' Prämisse insofern nicht entsprechen kann.

Sokrates greift vor einer näheren Untersuchung des Definitionsversuchs Charmides Verweis auf die ihm angeblich unbekannte Person auf, die die Definition aufgestellt haben soll, und behauptet, sie stamme von "Kritias [...] oder von einem anderen klugen Menschen" [32]. Die Formulierung impliziert nicht nur, dass es sich bei Kritias ebenfalls um einen klugen Menschen handelt, sondern auch die Wertigkeit der Definition an sich. Es wäre möglich, dass dies den Versuch darstellt, eine Einbindung des bisher nicht an dem Untersuchungsprozess beteiligten Kritias vorzunehmen und könnte außerdem als Appell an diesen fungieren, für die wahrscheinlich von ihm stammende Definition einzutreten. Kritias leugnet zu diesem Punkt allerdings, dass er der Urheber des Gesagten ist.

Sokrates behauptet es handele sich bei der Definition um ein Rätsel und nimmt sie im Folgenden überwörtlich, zieht sie beinahe ins Lächerliche. Er gibt vor, dass somit beispielsweise nur derjenige besonnen wäre, der lediglich seinen eigenen Namen, nicht allerdings den Anderer schreiben würde und führt diesen Argumentationsgang mit einer Analogiebildung zur Polis fort: "wird wohl eine Polis gut verwaltet, wenn gesetzlich vorgeschrieben ist, daß jeder seine eigene Kleidung weben und waschen und seine eigenen Schuhe herstellen soll, genauso wie die Ölflasche, den Striegel und alles übrige" [33]. Es ist auffallend, dass Sokrates geradezu versucht, die Definition misszuverstehen. Das von ihm Gesagte lässt sich aus der Definition zwar ableiten, in dieser Form und durch dessen Ausschließlichkeit stellt es allerdings eine starke Reduktion dar. Es bleibt zu vermuten, dass diese Argumentation einen (weiteren) Appell an Kritias, den wohl vermuteten eigentlichen Definitionsgeber, darstellt, denn wie Sokrates eingangs folgert, hat derjenige, "der Besonnenheit als 'das Seine tun' definiert hat, etwas anderes gemeint [...], als er da von sich gegeben hat" [34]. Somit kann dieser überspitzte Argumentationsgang als Mittel aufgefasst werden, den der Unwissenheit die Besonnenheit betreffenden Charmides nun endgültig zu überfordern und gleichsam den eigentlichen Definitionsgeber zur näheren Erläuterung aufzufordern. Für diese These spricht auch der Umstand, dass sowohl Sokrates als auch der abermals seine Unwissenheit eingestehende Charmides [35] nun auf emotionaler Ebene versuchen, Kritias anzusprechen - Sokrates durch seine Frage, ob die Bestimmung von einem "Einfaltspinsel" [36] stamme und Charmides unter anderem durch seine Vermutung, nicht einmal der Urheber könne vielleicht gewusst haben, was er gedacht habe [37]. Diese "Spitzen" verfehlen ihre Wirkung nicht, denn der in Rage geratene Kritias greift nun in das Gespräch ein, stimmt der Definition voll zu "und will die Behauptung übernehmen" [38].

"Das Seine tun" (Kritias)

Es erscheint nicht nur mehr als auffällig, dass der im Vorfeld die Urheberschaft vehement von sich weisende Kritias sich nun plötzlich bereit erklärt, die Behauptung zu übernehmen und ihr des Weiteren voll zustimmt - es legt auch nahe, dass das vorherige Von-sich-weisen der Definition nicht wahrheitsgemäß war.

Kritias versucht seine Definition zu explizieren, indem er eine nähere Begriffsbestimmung durchführt und in Folge dessen die Begriffe "tun" und "machen" als voneinander verschieden darstellt. Er greift im Folgenden auf die Bestimmungen des Hesiod zurück, welcher das, "was auf eine nützliche Weise 'gemacht' ["tun"] ist, [...] Werk und [...] 'Machen' [...] als 'Werken' und 'Tätigkeiten' [bezeichnete]" [39]. Ein "Werk" soll des Weiteren immer gut sein, wohingegen das "Machen" auch schlecht sein kann. Kritias schließt sich Hesiods Meinung an und fordert implizit von Sokrates, es ihm gleich zu tun, indem er folgert: "Daher muß man davon ausgehen, daß Hesiod und jeder andere vernünftige Mensch denjenigen besonnen nennt, der 'das Seine tut'" [40]. In Reaktion darauf überführt Sokrates die von Kritias aufgestellte These in eine Explikation dessen, was Kritias vorher als "das Seine tun" bezeichnet hat, nämlich "das Gute tun" - nicht die Frage, ob es sich um ein "Werk" oder ein "Werken" handelt ist entscheidend, sondern die Bestimmung dessen Wertigkeit. Kritias stimmt Sokrates' Resumee zu und unternimmt einen erneuten Bestimmungsversuch der Besonnenheit.

"Das Gute tun"

"Als 'Gutes tun' bestimme ich jetzt in aller Deutlichkeit für dich die Besonnenheit" [41] führt Kritias an. Aber auch diese sehr weit gefasste Definition kann der sokratischen Analyse nicht standhalten, denn Sokrates gelingt es aufzuzeigen, dass derjenige, der besonnen handelt, auch ein Wissen davon haben muss, dass er besonnen handelt. Zur Verdeutlichung bedient er sich des Beispiels eines Arztes, der nicht immer wissen kann, ob seine Therapie den Patienten zum Guten oder Schlechten verhilft. War seine Heilmethode aber gut und nützlich, so hätte er nach gegebener Definition besonnen gehandelt, ohne ein Bewusstsein davon haben zu können. Die Unvollkommenheit der Definition wird von Kritias eingestanden und dieser greift auf die Inschrift des delphischen Tempels [42] zurück, um zu einer genaueren Bestimmung überzugehen.

"Selbsterkenntnis"

Die Besonnenheit, nun bestimmt als Selbsterkenntnis [43], bedeute somit auch ein Erkennen und impliziert damit ebenfalls ein bestimmtes Wissen. Wissen ist aber immer ein "Wissen von etwas" [44] und bezieht sich zudem immer auf etwas von diesem Wissen selbst verschiedenes [45]. "Besonnenheit allein aber ist ein Wissen, das sich auf das sonstige Wissen bezieht und auf sich selbst" [46] behauptet Kritias und vertritt somit die These, Besonnenheit alleinig sei ein Wissen von allem anderen Wissen und sich selbst. Er macht Sokrates den wohl nicht gänzlich unbegründeten Vorwurf, ihm gehe es nur um die Widerlegung seiner Thesen und ans sich nicht wahrhaftig um die Besonnenheit selber - dieser entgegnet allerdings, er würde auch sich selbst in dem was er sagt überprüfen und das Ziel verfolgen, die Wahrheit erkenntlich zu machen [47]. Diese Darstellung seiner Intentionen legt Sokrates selbst ein besonnenes Vorgehen nahe und dient implizit als Explikation der von Kritias vorgebrachten These, nämlich das wahrhafte Bemühen um das Wissen sei Anhaltspunkt für Besonnenheit.

Die folgende Untersuchung der von Kritias explizierten These, dass die Besonnenheit "sich als einziges von allem Wissen sowohl auf sich selbst als auch auf alles sonstige Wissen bezieht" [48] , wird von Sokrates abermals um einen Zusatz ergänzt, nämlich, dass dieses Wissen dann auch das Nichtwissen zum Gegenstand haben müsste. Anhand empirischer wie emotionaler Beispiele und einiger weiterer relationaler Vergleiche von Gegenständen zu sich selbst macht Sokrates in der Untersuchung deutlich, dass die Existenz eines solchen Wissens höchst zweifelhaft und in ihr des Weiteren keine Aussage über den erzielten Nutzen und Wert enthalten ist [49].

Da Kritias nicht in der Lage ist, seine These zu festigen und dies vor den Anwesenden nicht eingestehen möchte, "redete [er] unklar daher und versuchte, seine Ratlosigkeit zu vertuschen" [50]. Durch dieses Verhalten legt Kritias seine Intentionen offen, wenn auch nicht bewusst: Nicht das wahrheitsgemäße Auffinden der richtigen Definition und Bestimmung liegt ihm am Herzen, sondern die Durchsetzung seiner Thesen - ein Beleg dafür, dass die Besonnenheit ihm eben nicht zu eigen ist. Um die Untersuchung trotzdem weiterführen zu können, schlägt Sokrates vor, Kritias' These vorerst als richtig anzusehen und zu bestimmen, inwiefern ein solches Wissen von Nutzen wäre.

"Das Wissen des Guten"

Kritias stellt die These auf, dass jemand, der ein sich selbst erkennendes Wissen hat, auch im Besitz der erkannten Eigenschaft sein muss. "Wie jemand schnell ist, wenn er Schnelligkeit hat, [...] so wird er, wenn er die Erkenntnis ihrer selbst hat, dann auch einer sein, der sich selbst erkennt" [51], folgert Kritias und wird von Sokrates in dieser Hinsicht bekräftigt, allerdings weist dieser darauf hin, dass es nicht schlüssig ist, wieso aus Gesagtem notwendigerweise folgen soll, was derjenige weiß und was nicht - ein Wissen vom Wissen wird lediglich aufdecken können, dass derjenige ein Wissen oder ein Nicht-Wissen hat. Mit einem solchen Wissen wäre lediglich möglich zu erkennen, dass man etwas weiß, aber nicht, was man damit genau weiß, bzw. was dieses Wissen zum Gegenstand hat (Sachwissen). Daraus folgt, dass mit Hilfe der Besonnenheit als Wissen vom Wissen nicht viel erkannt werden könnte, denn um beispielsweise etwas beurteilen zu können, wäre ein Sachwissen des jeweiligen Wissens erforderlich - ansonsten könnte mit der Besonnenheit nur erkannt werden, dass jemand irgendetwas weiß, nicht allerdings was dieses genau ist.

Sokrates schließt, dass ein solches Wissen, sei es noch so vollkommen, nicht das Glück gewähren kann und fordert Kritias auf, den Gegenstand, das, was man diesem Wissen weiß, näher zu bestimmen. Dieser entgegnet, es sei das Wissen, mit dem man unterscheiden könne, was gut und was schlecht ist [52]. Allerdings wird die Besonnenheit auch in dieser Hinsicht selbst keinen Nutzen haben, denn sie macht beispielsweise nicht gesund - das fällt in das Wissensgebiet der Medizin.

Es ist also nicht gelungen eine abschließende Untersuchung darüber durchzuführen, was das Wesen der Besonnenheit wirklich ausmacht - alle vorgenommenen Bestimmungen konnten nicht das gewünschte Ergebnis zu Tage fördern. In Folge dessen zwingt Charmides Sokrates, ihn als Schüler aufzunehmen. Sokrates hat keinen Einfluss auf diese Entscheidung - Kritias und Charmides haben entschieden, ohne ihn zu fragen und sind bereit, diesen Entschluss durchzusetzen. Die Frage nach einer vorliegenden Besonnenheit bei Kritias und Charmides dürfte durch diesen Akt der Gewalt ihre Antwort gefunden haben.

Aber trotz der inhaltlich erfolglosen Bestimmung ist im Rahmen des Dialogs klar geworden, auf welchem Weg man sich der Besonnenheit nähern kann. Schwieriger, weil umfassender, ist allerdings noch die Frage nach dem "guten Leben" an sich und die Bestimmung welchen Platz die Besonnenheit in dieser Theorie einzunehmen hat.

Die Frage nach dem "Guten Leben"

So schwierig es auch erscheint, eine abschließende Antwort auf diese Frage zu geben - wichtig und aktuell ist sie nachwievor. Dies belegen beispielsweise verschiedene Artikel in populären Zeitschriften, Internetforen und ganze Sendungen im Fernsehen. Ein einfaches "Dahinleben" ohne eingehende Beschäftigung mit sich und seinem Leben ist dem Menschen zwar heute wie damals möglich, doch ob dieser Weg zum Glück oder zum Einklang mit sich selbst führen kann, scheint höchst zweifelhaft - nach Platon wäre dies eher als Verfehlung seiner eigenen Bestimmung zu werten.

Im Gegensatz zu den Vorstellungen der heutigen westlichen Gesellschaften vertritt Platon die These eines objektiven Guten, d.h. nach allgemeingültigen Aussagen darüber, was gut für den Menschen ist. Ein solcher Ansatz verspricht die Möglichkeit mit einem einmal gefundenen und verifizierten Ergebnis eine Antwort für alle Menschen geben zu können und darauf aufbauend eine Art "Kochrezept" für das gute Leben zu entwerfen. Eben dieses "Rezept" sah Platon in den Tugenden verkörpert. Sie sollten dem Menschen als Wegweiser dienen, um ein Leben im Einklang mit sich selbst und ihrer Umwelt im Kleinen wie im Großen (Polis) zu führen. Wie in der "Politeia" beschrieben steht ist dies ein Kennzeichen für Besonnenheit, "der Zusammenklang all dieser drei [Seelen-] Teile" [53] und bedeutet, dass der Einzelne in Harmonie mit sich leben kann, ohne dass seine Seelenteile miteinander hadern oder um Machtanteile ringen.

Generell vertritt Platon die Ansicht, dass ein Leben in "Einsicht, Denken, Erinnerung und was damit verbunden ist, nämlich richtige Meinung und wahrheitsgemäße Überlegung" [54] nicht nur besser als das Streben nach Lust sondern gut für den Menschen an sich ist und wehrt sich somit gegen die These des Hedonismus, die Lust sei das einzig Gute. Im Sinne der hier vorgestellten Konzeption des guten Lebens ist dies durchaus folgerichtig und präzisiert die Vorstellung vom guten Leben um einige wichtige Anhaltspunkte.

Das tugendhafte Leben ist also für Platon das gute Leben. Ein Leben, das vollkommen gut ist, denn es führt nicht nur den betreffenden Menschen selbst zu Einklang, Schönheit und Gesundheit - es wirkt sich auch auf die soziale Umwelt aus, verbessert zwischenmenschliche Beziehungen und nicht zuletzt auch die Polis an sich. Dieses Streben nach dem Guten und Gerechten sieht Platon als die Erfüllung der Natur des Menschens an und beschreibt diesen als einen statischen, d.h. er vertritt die These, dass bei Mensch und Staat der einmal erreichte Zustand des Guten unverändert bleiben soll, solange Gerechtigkeit in ihm herrscht [55]. Ansonsten müsse der Prozess wiederholt werden. Vollendet führt dieser zu Gesundheit von Seele und Körper, lässt den Menschen wahrhaft schön aus sich heraus werden und führt ihn seiner Bestimmung im Leben zu.

Die Gesundheit der Seele muss allerdings erarbeitet werden, sie erfordert, offen für sich selbst und die umgebende Wirklichkeit zu sein, um ein Leben gemäß der vier vorgestellten Tugenden führen zu können. Am Dialog "Charmides" wird dies sehr deutlich, denn eben Kritias und (zum Teil auch) Charmides wähnen sich bereits im Besitz der Besonnenheit, belegen allerdings durch ihre Argumentation und Verhaltensweisen das Gegenteil. Aber eben der unreflektierte Glaube, zu wissen, was die Besonnenheit auszeichnet und dieses als sein Eigen zu vermuten, ist der Grund dafür, sich vor der Wirklichkeit zu verschließen, in der Überzeugung, keiner Suche mehr zu bedürfen und die Wahrheit quasi zu "besitzen". Die Aporie, in der der Dialog endet, kann als Versuch des Sokrates bzw. des Platons gewertet werden, eben diesen Schritt zu revidieren und eine Öffnung für die Wirklichkeit zu induzieren. Auf diesem Wege wäre eine Suche ermöglicht und ein potentieller Erfolg in Aussicht gestellt. Allerdings erfordert jede Suche auch Mut und den Wunsch nach Wahrheit, denn sie impliziert, die Verbindung zu Geglaubtem einstweilig zu lösen und sich in die Ungewissheit der die Suche kennzeichnenden Reflexion zu begeben. Eben diese Suche ist es, zu der Sokrates im Dialog "Charmides" seine beiden Gesprächspartner führen will, indem er ihnen ihre Notwendigkeit durch die Aporie aufzeigt - sie wissen nicht, was "Gut Leben" bedeutet und können es nur dadurch erfahren, dass sie offen und wahrheitsliebend danach suchen. Letzten Endes ist bereits der erste diesbezügliche Schritt ein Schritt hin zur Tugend an sich.

Zusammenfassung

Der griechische Philosoph Platon entwickelt in seinem Werk "Politeia" ein Konzept für den vollendet guten Staat und dessen Beschaffenheit. Dieser muss ihm zufolge auf vier Tugenden gegründet sein, nämlich auf Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Diese Tugenden überträgt er ebenso auf den Menschen als Teil der Polis, so dass der Mensch, will er ein gutes Leben führen, diesen vier Tugenden entsprechen muss. Die von Platon des Weiteren vorgenommene Bestimmung der Seelenteile des Menschen führt die Teile "Vernunft", "Mut" und "Begierde" an und erinnert damit bereits an das später von Siegmund Freud entwickelte erste topische Modell.

Im Dialog "Charmides", der zeitlich noch vor der "Politeia" entstanden ist, beschäftigt sich Platon bereits mit seiner später explizierten Tugendlehre. Als Protagonist tritt wie häufig in den platonischen Frühdialogen Sokrates auf, der im Gespräch mit Charmides und dessen Onkel Kritias, den späteren Mitgliedern der sogenannten "30 Tyrannen", versucht zu ergründen, was die Besonnenheit ist und wie sie beschaffen sein muss. Im Verlauf des Untersuchungsgesprächs wird deutlich, dass weder Charmides noch Kritias sich ausreichend mit sich selbst beschäftigt haben und in Folge dessen keine stimmige Auskunft über die Besonnenheit geben können. Basierend auf Sokrates' These, dass derjenige, der besonnen ist, auch eine Wahrnehmung und damit Vorstellung von selbiger haben müsse, lässt sich schließen, dass beide Gesprächspartner nicht besonnen sein können. Der Dialog endet in einer Aporie, was als Mittel der Induzierung einer Öffnung für die Wirklichkeit und nachfolgenden Reflexion über die Besonnenheit zu deuten ist.

Platon sieht in dem tugendhaften Leben die Basis für ein gutes Leben, das sich nicht an Lust sondern an Vernunft orientiert. Ein solches gelungenes Leben führt zu Harmonie, Schönheit und Gesundheit an der Seele, erfordert allerdings eigene Arbeit, d.h. ein solches ist nicht a priori gegeben, sondern muss durch Reflexion und Liebe zur Wahrheit erreicht werden. Ist es allerdings einmal erreicht worden, so verhält es sich insofern statisch, als es erst und nur dann geändert werden muss, wenn die Gerechtigkeit nicht mehr in ihm vorherrschend ist.

Abschließende Bemerkungen

Die Thesen des Platon, besonders diese der beschriebenen Passagen der "Politeia", haben mich durch ihre Schlüssigkeit und den enthaltenen Idelalismus sehr beeindruckt. Die Konzeption eines Staates, der sich in seinen Eigenschaften und Merkmalen prinzipiell nicht von den in ihm lebenden (guten) Menschen unterscheiden soll, halte ich für sehr interessant, wenn auch für (zumindest heute) utopisch. Die Geschichte hat gezeigt, dass es nicht nur Tugenden sind, die in den herrschenden Menschen regieren, sondern nur zu häufig das Gegenteil, repräsentiert durch Gier, Machtmissbrauch und die Bedachtheit auf eigene Vorteile. Dennoch scheint ein sich an dem "Guten" im Menschen orientierender Staat ein guter Anstoß zu sein, mit dessen Hilfe sich unter anderem Bewertungsmaßstäbe bilden lassen.

Die Tugendlehre des Platon, wie ich sie verstanden habe, setzt die Existenz eines objektiven Guten voraus, das allgemeingültige Aussagen darüber enthalten soll, was für alle Menschen gut und schlecht ist. Eine solche Vorgehensweise halte ich für problematisch, weil sie meiner Meinung nach in diesem Ausmaß zu rigide ist, um sich veränderten Bedingungen anzupassen. Mir wäre in der heutigen Zeit beispielsweise nicht schlüssig, wieso ein Bewahren erzieherisch vermittelter Vorstellungen eine reflexive Auseinandersetzung und gegebenenfalls eine angleichende Abänderung behindern sollte. Meiner Meinung nach ist die Entwicklung des Menschen maßgeblich von derartigen Änderungen der Vorstellungen beeinflusst worden (z.B. Kopernikus) - sicherlich nicht nur in guter Hinsicht, aber es ist naheliegend, dass dies der menschlichen Natur entspricht und es bleibt zu hoffen, dass wirksame Lösungsstrategien entwickelt werden können, um diese Gesetze und Vorstellungen an das jeweils Beste der gegebenen Situation anpassen zu können.

Ich vertrete jedoch auch die Ansicht, dass gerade in unserer "modernen" Zeit das Augenmerk der Menschen wieder mehr auf Tugenden und allgemein den reflexiven Umgang mit sich selbst gelenkt werden sollte, um einigen besorgniserregenden Entwicklungen Einhalt gebieten zu können und letzten Endes auch das Beste für sich selbst, sein soziales Umfeld und den Planeten, den wir bewohnen, zu erreichen. Die Suche nach solchen (Lebens-) Konzepten zu beginnen wäre nicht nur ein begrüßenswerter Schritt, sondern im Sinne einer durch die Erkenntnis hervorgebrachten Öffnung für die Wirklichkeit bereits ein kleines Stück Tugend an sich.

Literatur

Fußnoten

  1. "Charmides", Nachwort, Seite 112
  2. "Philosophie - Lexikon", "Platon", Seite 493
  3. Der Begriff "Kardinaltugenden" wurde in diesem Zusammenhang nachträglich von Ambrosius geprägt und stammt somit nicht von Platon selbst.
  4. "Politeia", Seite 216, [427 e]: "Unser Staat ist, wenn er nur richtig gegründet wird, vollendet gut. [...] Somit auch weise, tapfer, besonnen und gerecht."
  5. "Politeia", Seite 217, [428 d]
  6. "Politeia", Seite 218/219, [429 c]
  7. "Politeia", Seite 218, [429 d]
  8. "Politeia", Seite 220, [430 c]
  9. "Politeia", Seite 221, [431 c]
  10. "Politeia", Seite 224, [433 b]
  11. "Politeia", Seite 226, [434 c]
  12. "Politeia", Seite 226, [434 d]: "[...] wenn wir zuerst an einem größeren Ding die Gerechtigkeit beobachten können, dann würden wir sie in ihrem Wesen um so leichter am einzelnen Menschen erkennen. Und dies größere Ding schien uns der Staat zu sein [...]" ff.
  13. Siehe: Schaubild: "Die drei Seelenteile und deren (Inter-) Aktionen"
  14. Siehe: Siegmund Freud, "Zur Psychologie der Traumvorgänge", in: "Die Traumdeu tu ng ", Seite 513 ff.
  15. "Politeia", Seite 235, [441 c]
  16. "Politeia", Seite 236, [441 e]
  17. "Politeia", Seite 236, [441 d - e]
  18. "Politeia", Seite 236, [441 e - 442 a]
  19. "Charmides", Nachwort, Seite 112
  20. "Charmides", Anmerkung 2, Seite 83
  21. "Charmides", Seite 15, [156 e]
  22. "Charmides", Seite 15, [157 a]
  23. "Charmides", Anmerkung 18, Seite 87
  24. "Charmides", Seite 19, [158b]
  25. "Charmides", Seite 21, [158 e - 159 a] (B -> W, W -> V, also: B -> V)
  26. "Charmides", Seite 23, [159 b]
  27. "Charmides", Seite 13, [159 c - d]
  28. "Charmides", Seite 27, [160 d]: "[...] schau dich selber an [...]"
  29. "Charmides", Seite 27, [160 e]
  30. "Charmides", Seite 29, [161 a]
  31. "Charmides", Seite 29, [161 b]
  32. "Charmides", Seite 29, [161 b - c]
  33. "Charmides", Seite 31, [161 e]
  34. "Charmides", Seite 31, [161 d]
  35. "Charmides", Seite 33, [162 b] : "Beim Zeus, ich weiß es nicht"
  36. "Charmides", Seite 33, [162 b]
  37. "Charmides", Seite 33, [162 b]
  38. "Charmides", Seite 35, [162 e]
  39. "Charmides", Seite 37, [163 c]
  40. "Charmides", Seite 37, [163 c]
  41. "Charmides", Seite 39, [163 e]
  42. Die Inschrift lautet: "Erkenne dich selbst!"
  43. "Charmides", Seite 41, [164 d]
  44. "Charmides", Seite 43, [165 c]
  45. "Charmides", Seite 45, [166 a]
  46. "Charmides", Seite 47, [166 c]
  47. "Charmides", Seite 47, [166 d]
  48. "Charmides", Seite 49, [166 e]
  49. "Charmides", Seite 57, [169 a - b]
  50. "Charmides", Seite 57, [169 d]
  51. "Charmides", Seite 57, 59, [169 e]
  52. "Charmides", Seite 73, [174 b]
  53. "Politeia", Seite 237, [442 c]
  54. "Philebos", Seite 35
  55. "Politeia", Seite 224, [433 b]